Das gute Leben

Wertebewusstes Leben

Häufig höre ich in der Beratungspraxis, dass der Sinn dafür, wer man eigentlich ist und was den Kern der eigenen Person ausmacht, kaum mehr zu spüren ist.


Viele von uns mäandern ständig zwischen unterschiedlichen Rollen, im Job ist manch einer eine völlig andere Person als im Privatleben. In Freundschaften vielleicht ein anderer als in der Familie oder gegenüber der Partnerin. 


Es wird oftmals beklagt, sich zerrissen zu fühlen, die unterschiedlichen Lebensbereiche nicht vereinbaren zu können, sich im Job oder der Beziehung von sich selbst entfremdet zu fühlen, nirgends recht "man selbst" sein zu können. Manch einer flüchtet sich dann in die innere Kündigung (im Beruf) oder in Affären (in der Partnerschaft). Mancher betäubt das Gefühl der Entfremdung und Unzufriedenheit mit Dauerablenkung, Flucht ins Fernsehprogramm, in Online-Spiele, die abendliche Flasche Wein oder das Träumen von "einem besseren Leben".


Viele Menschen fühlen sich getrieben von Erwartungen der Umgebung, eigenen Leistungszielen und der Hektik des Alltags. Immer mehr Menschen sind auf der Suche nach Orientierung und Oasen der Ruhe. Dies suchen die meisten erst einmal im außen. Das ist in vielen Lebenssituationen sehr sinnvoll und kann eine große Bereicherung sein, doch übersieht manch einer dabei, dass der wichtigste Ratgeber stets verfügbar in uns selbst liegt.


Einen Ausweg aus dem Gefühl innerer Unstimmigkeit und Unzufriedenheit kann die Orientierung an eigenen Werten bieten. Oder wie der Psychologe und Sprachwissenschaftler Matthias Wengenroth es ausdrückt: Persönliche innere Werte sind der Kompass, der uns durch "das gute Leben" navigiert. 

 


Werte sind das Bindeglied zwischen den unterschiedlichen Rollen Ihres Alltags. Werte trennen nicht zwischen beruflich und privat. Für die persönlichen Werte spielt es keine Rolle, ob Sie morgens das Büro betreten, in einer Besprechung mit Kollegen sitzen, abends mit Ihrer Familie am Tisch sitzen oder sich mit einer guten Freundin treffen. 


Werte existieren unabhängig von den Erwartungen anderer Personen oder Merkmalen der Situation, von momentanen Gedanken, Gefühlen, Stimmungen und Befindlichkeiten. Sie stehen über alledem. Sie stehen auch über dem, was von außen an uns alle als Mitglieder einer Gesellschaft herangetragen wird, was angeblich wichtig und erstrebenswert ist. 




Deshalb sind sie ein Fixum in unserem Leben, ein Fels in der Brandung, ein Leuchtturm, oder eben ein Kompass. Haben wir uns einmal diesem inneren Fixum zugewandt, es erspürt und hinterfragt, können wir uns in jedem Augenblick des Alltags darauf besinnen und ihm stetig folgen. Entscheidungen fallen plötzlich leicht, weil die persönlichen Werte eine eindeutige und klare Richtschnur bieten, welcher Weg der für uns persönlich richtige ist. Er fühlt sich einfach "stimmig" an.


In entsprechenden Übungen berichten Patienten, Klienten und Coachees in meiner Praxis, dass diejenige Lösung eines Problems oder diejenige Variante einer Entscheidung, die den persönlichen Werten entspricht, sich körperlich und emotional "rund", "ruhig", "warm" oder "entspannt" anfühlt. Während Lösungen oder Entscheidungen, die sich eher an äußeren Erwartungen oder sogenannten Schein-Werten (politisch korrekt oder sozial erwünscht) oder auch an einer momentanen Stimmung oder Sorge orientieren, sich "angespannt", "mit Druck behaftet", "unruhig", "getrieben" oder "unrund" anfühlen. Oft sind diese Gefühle begleitet von muskulärer Anspannung, Schwitzen oder einem Kältegefühl. 



Wir fühlen uns wohl und gesund in Umgebungen, in denen unsere zentralen Werte verwirklicht sind: seien es Firmen, Teams, Freundschaften, Beziehungen oder Nachbarschaften. 

 

Werte sind zu vergleichen mit dem, was eine Pflanze braucht, um ideal zu gedeihen. Sie kann sich vielleicht an eine nicht ganz optimale Umgebung anpassen, doch wird sie wahrscheinlich weniger Blüten tragen, dafür aber mehr welke Blätter. 


Einen guten Gärtner macht zweierlei aus. Zum einen muss er gut Bescheid wissen über die Pflanze, für die er verantwortlich ist. Zum anderen muss er sich ihr verpflichten, die Verantwortung für ihre Fürsorge übernehmen und sich ihr kontinuierlich widmen. 

So wie wir uns selbst erst einmal gut kennenlernen und uns dann dafür entscheiden müssen, uns konsequent um uns zu kümmern. Die eigenen Werte genau zu kennen ist eine Voraussetzung dafür, die Quellen von Wohlbefinden und Unwohlsein im Leben zu erkennen. Eine Verpflichtung sich selbst gegenüber einzugehen, das Leben nach den eigenen Werten zu gestalten, eine weitere. 

Und so identifizieren Sie Ihre persönlich bedeutsamsten Werte. 

 

 

Ich lade Sie ein zu einem kleinen Gedankenexperiment. Es scheint zunächst makaber, doch ist unser aller Lebenszeit begrenzt, versuchen Sie das Ende für die begrenzte Zeit dieser gedanklichen Übung einmal vorweg zu nehmen. 

Wenn Sie möchten, machen Sie sich Notizen zu den Gedanken und Bildern, die während der Übung auftauchen. 


Stellen Sie sich vor, Sie liegen auf dem Sterbebett, Sie schauen auf Ihr Leben zurück. Stellen Sie sich die Frage, "Was würde ich wirklich zutiefst bereuen, hätte es in meinem Leben keinen Raum gefunden?"

Vielleicht schließen Sie einen Moment die Augen, um wirklich in die Vorstellung eintauchen zu können. Fragen Sie sich auch, was sein müsste, damit Sie friedlich und zufrieden auf Ihr Leben zurückschauen.

 

Gehen Sie nun in Gedanken noch einen  Schritt weiter. Sie sind in der Lage als Beobachter (von wo aus auch immer) auf Ihre eigene Beisetzung zu schauen. Was wünschen Sie sich am allermeisten, das die Menschen über Sie sagen, die zum Begräbnis gekommen sind? Was würde Ihnen wirklich etwas bedeuten? 


Kehren wir zurück ins Hier und Jetzt. Fragen Sie sich: "Was soll in meinem Leben in fünf Jahren unbedingt noch genau so sein wie es heute ist?" Und dann: "Was soll sich unbedingt ändern?"

 

Fragen Sie sich auch: "Welche Verhaltensweisen anderer Menschen oder welche Lebensumstände schmerzen mich in meinem Leben am meisten? Womit kann man mich am meisten verletzen?"

Und andererseits, "Was bewundere und schätze ich bei anderen Menschen am meisten?" Denken Sie an zwei oder drei Menschen, die Ihnen besonders wichtig sind und fragen sich, was sie ausmacht, warum sie Ihnen so viel bedeuten. 

 

Diese Fragen können Ihnen helfen dahinter zu kommen, was wirklich essenziell wichtig ist in Ihrem Leben, was Ihnen im tiefsten Inneren wichtig ist, egal ob andere Menschen etwas davon mitbekommen oder nicht (also egal, ob der Wert sozial erwünscht oder "politisch korrekt" ist oder nicht). 

 

Im nächsten Schritt kann Ihnen der innere Kompass helfen, sich "das gute Leben" zu gestalten, das sich jeder Mensch wünscht. Nämlich das Leben, das Ihnen entspricht. Das Leben, in dem in möglichst vielen Lebensbereichen Ihre wichtigsten persönlichen Werte möglichst umfassend realisiert sind. 

 

Ermöglicht mir mein Job zum Beispiel das Verwirklichen von Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheiten? Bietet meine Partnerschaft das Maß an Wärme und Loyalität, das meinen Werten entspricht? 

Diese Fragen identifizieren nicht nur schwerwiegende Frustrationen persönlicher Werte, sie bieten auch eine Fokussierung auf das wesentliche. Zum Beispiel muss kein Partner der Welt alle positiven Eigenschaften mitbringen, die vorstellbar sind - Sie erinnern sich vielleicht, Werte stehen über alledem. Aber es sollte ihm oder ihr möglich sein, mit Ihnen gemeinsam die persönlich wichtigen Werte in der Partnerschaft zu leben. 

 

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Kommentare: 4
  • #1

    Panikbanane (Montag, 08 September 2014 17:12)

    Wirklich schöner Artikel. Allerdings fiel mir das Gedankenexperiment leider etwas schwer, allein der Gedanke ans Sterbebett löste bei mir schon ziemliches Unwohlsein, wenn nicht sogar eine kleine Panikattacke, aus.

  • #2

    psyberlin (Dienstag, 09 September 2014 10:45)

    Liebe Leserin oder lieber Leser,

    danke für Ihre wichtige Rückmeldung.
    Falls Sie häufiger mit Ängsten und Panikattacken zu tun haben, informiere ich Sie bei Bedarf gerne über Behandlungsmöglichkeiten und Anlaufstellen in der Nähe Ihres Wohnortes, wenn Sie mir eine entsprechende Anfrage per E-Mail zukommen lassen (kontakt@psyberlin.com).

    Beste Grüße, Julia Arnhold

  • #3

    Andrea L. (Samstag, 01 August 2015 08:09)

    Das ist ein wirklich toller Artikel. Bin drüber gestolpert, weil ich gerade das gute Leben in mir suche und versuche, nicht mehr davon abhängig zu sein, was andere von mir denken.Das ist für mich sehr schwer, weil ich dann denke, dass ich nicht ich selbst bin. Deshalb verstehe ich nicht ganz, warum es mir wichtig sein soll, was andere Menschen an meinem Begräbnis über mich sagen.
    Ich werde mal weiter drüber nachdenken....

  • #4

    psyberlin (Montag, 03 August 2015 13:11)

    Liebe Frau L., vielen herzlichen Dank für Ihr Kommentar und das schöne Feedback, über das ich mich sehr freue.

    Die Übung mit dem Sterbebett / Begräbnis hilft manchen Menschen dabei, einen Zugang zu ihren persönlichen Werten jenseits materieller Wünsche oder gewisser "Eitelkeiten" zu bekommen. In Ihrem speziellen Fall bleiben Sie vielleicht einfach bei dem Gedankenexperiment "Sterbebett", das ist gar kein Problem.

    Ich wünsche Ihnen weiterhin alles erdenklich Gute!

    Mit besten Grüßen,

    Julia Arnhold