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Selbstaufopferung

Wiederkehrende emotionale und zwischenmenschliche Probleme im Erwachsenenalter können in einigen Fällen darauf zurückgeführt werden, dass in Kindheit und Jugend emotionale Grundbedürfnisse nach Bindung, Vorhersehbarkeit von Ereignissen in der Umgebung, Konfrontation mit realistischen Grenzen, der Möglichkeit eigene Gefühle auszudrücken und Spontaneität und Ausgelassenheit erleben zu können, von wichtigen Bezugspersonen nicht angemessen erfüllt wurden (siehe zum Beispiel 'Needy, not greedy'). Oftmals findet auf diese Weise ein direkter Einfluss des elterlichen Verhaltens auf die kindliche Entwicklung statt, eine direkte Prägung von Verhaltens- und Erlebensweisen, die im Erwachsenenalter zu leidvollen Schwierigkeiten führen können.

 

Menschen, die als Kind keine warme und liebevolle Zuwendung erhalten haben, können im Erwachsenenalter zum Beispiel das tief verwurzelte Grundgefühl haben, völlig unverbunden mit anderen Menschen zu sein, irgendwie anders und absolut fremd in einer Welt, die außerhalb ihrer eigenen liegt und für sie unzugänglich ist. Andererseits kann zum Beispiel ein sehr instabiles kindliches Umfeld mit immer unterschiedlichen Reaktionen auf Lernversuche und Entwicklungsschritte des Kindes zu einem Grundgefühl mangelnder Kontrolle über Ereignisse und Angst vor Versagen führen. 

 

Neben diesem relativ direkten Weg der Prägung emotionaler Strukturen, versagen sich Kinder unter Umständen auch sozusagen selbst die Erfüllung bestimmten emotionaler Grundbedürfnisse - zugunsten der Erfüllung eines anderen. 

 

Ohne dass wir uns dessen bewusst sind, lesen wir gewissermaßen permanent die Gedanken unserer Mitmenschen. Spezifische neuronale Schaltkreise in unserem Gehirn sind mit nichts anderem beschäftigt, als Gedanken, Gefühle, Stimmungen und Absichten unseres Gegenübers zu erschließen. Diese sogenannte "Mentalisierung" ist wesentliche Voraussetzung für ein funktionierendes soziales Miteinander und das Eingehen zwischenmenschlicher Beziehungen. Diese Fähigkeit entwickelt sich bereits im frühen Kindesalter. Kinder wissen, wie es ihren Eltern geht, was sie erwarten und wollen und was ihnen fehlt. 

 

Eltern, die zum Beispiel psychisch labil oder durch starke innere Konflikte sehr mit sich beschäftigt sind, fühlen sich häufig von kindlichen Bedürfnissen nach Anerkennung, Ausgelassenheit und Grenzen überfordert. Sie  reagieren unter Umständen depressiv oder unsicher, ziehen sich innerlich wie äußerlich zurück. Durch Mentalisierungsprozesse erkennt das Kind, dass die Bezugsperson leidet, traurig, ängstlich, erschöpft oder überanstrengt ist - ohne dass dies explizit geäußert werden müsste. Da das Bedürfnis nach Bindung zu einer Bezugsperson nach heutigem Kenntnisstand das wichtigste menschliche Grundbedürfnis ist, reagieren Kinder auf subtile Signale, unausgesprochene Forderungen und Strafen äußerst sensibel, indem sie zum Beispiel aufhören, ihre Umgebung zu erkunden, ausgelassen zu spielen oder den Eltern ihre Leistungen zu präsentieren, wenn sie bemerken, dass dieses Verhalten die Eltern belastet und ihren Rückzug oder andere Formen der Strafe zur Folge hat. Wenn diese Opferung der Befriedigung eigener Bedürfnisse dazu führt, dass Bezugspersonen sich zugewandter und vorhersehbarer verhalten als zuvor, wächst das Kind in tragischerweise über sich hinaus, wird zulasten eigener Empfindungen zum fürsorgenden und entlastenden Gegenüber für die Eltern. Durch diese Erfahrung kann sich beim Kind die unbewusste Annahme festsetzen, nur durch Selbstaufopferung und extreme Orientierung an den Bedürfnissen und Befindlichkeiten anderer Menschen, eine Beziehung zu diesen Menschen aufnehmen und erhalten zu können. 

 

Im Erwachsenenalter geraten diese Menschen nicht selten in Beziehungen, in denen ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse keinen Platz haben. Häufig fehlt gar ihnen selbst der Zugang zu diesen Wünschen und Bedürfnissen - diese werden als bedrohlich erlebt, da sie (im inneren System Betroffener) die wichtigen Beziehungen zu anderen Menschen nur gefährden würden. "Ich brauche nichts als das Wissen darum, was Du brauchst."

 

Die Aufnahme und Festigung von Beziehungen sowie auch die Lösung von Konflikten in einer Beziehung basieren sozusagen alleine auf dem Grundprinzip des sensiblen Erspürens und Erfüllens der Wünsche des Gegenübers - alle Analysen und Verhaltensweisen beziehen sich darauf, was der andere wohl will und braucht und was ihn wohl verärgern würde, bis hin zur vollständigen Außenorientierung, innerhalb derer ein Betroffener sich jeder noch so schädigenden, unausgeglichenen oder vernachlässigenden Beziehung hingibt, wenn nur die Stabilität der Bindung gewährleistet bleibt.

 

Leid und Frustration sind hier vorprogrammiert - wenn auch das System über viele Jahre oder Jahrzehnte "funktionieren" kann, vielleicht so lange bis ein zentraler Lebenswunsch der Zufriedenstellung des Partners oder der Partnerin geopfert zu werden droht oder bereits geopfert wurde. Wenn die Kosten eines selbstaufopfernden Beziehungsmusters zu hoch werden, ist der Rückblick auf bisherige Verluste eine schmerzvolle Erfahrung, kann jedoch - mit entsprechender Unterstützung - auch die Chance bieten, "sein Leben neu zu erfinden" und auch den eigenen Bedürfnissen einen angemessenen Raum zu geben (siehe auch "So bin ich halt"). 

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Henry (Samstag, 07 Januar 2017 23:56)

    Ich bin in einer Familie groß geworden, wo nie über Gefühle, Bedürfnisse oder Probleme geredet wurde. Es wurde gestritten, gebrüllt und geschlagen.
    Einen Zusammenhalt gab es irgendwie nicht und ich dachte, ich könnte alles kitten.
    Heute ist es so, dass ich immer noch versuche herauszufinden, wo ich etwas kitten kann. Ich kann meine Gefühle nicht benennen und kenne meine Bedürfnisse meistens nicht.
    Ich habe versucht, meinen Sohn anders groß werden zu lassen, aber ich glaube, ich habe ihm nie sagen können, dass ich ihn sehr liebe.
    Dass dieses Gefühl Liebe sein könnte, ist mir erst jetzt aufgefallen. Ich selbst habe so etwas auch nie gehört.
    Ich bin schon seit einiger Zeit auf der Suche, wie ich herausfinden kann, was so alles noch bei mir los ist. Ich bin jetzt 48 Jahre und denke, dass ein Rückblick nach so langer Zeit auch nichts mehr bringt.
    Also werde ich mich mal neu erfinden. Vielen Dank für den sehr lehrreichen Artikel. Habe mich sehr häufig wiedererkannt.
    Lg Henry

  • #2

    Dr. Julia Arnhold (Dienstag, 10 Januar 2017 08:15)

    Lieber Henry,

    haben Sie vielen Dank für Ihren vertrauensvollen und offenen Kommentar. Aus fachlicher Sicht ist es nie zu spät, die gelernten Muster zu identifizieren und zu verändern. Da gibt es definitiv kein Alterslimit! Ich wünsche Ihnen viel Erfolg beim neu erfinden und möchte Ihnen ans Herz legen, sich nach Möglichkeit eine unterstützende Begleitung zu suchen, am besten eine Schematherapeutin oder einen Schematherapeuten. Hilfe bei der Suche bietet zum Beispiel der unabhängige Psychohterapie-Informationsdienst: www.psychotherapiesuche.de.

    Alles erdenklich Gute für Sie und herzliche Grüße,

    Ihre Julia Arnhold