Plädoyer für das Problematische

Hallo, wie geht’s?

 Bitte halten Sie kurz inne und überlegen Sie, wie häufig werden Sie an einem ganz normalen Tag gefragt, "Wie geht’s Dir?" Nicht vom Partner oder engen Freunden, sondern von Kollegen, Nachbarn, Bekannten. Ein, zwei, vielleicht drei Mal? Und, was antworten Sie üblicherweise?

 

Die Frage kommt den meisten Menschen wie eine Gewohnheit dem "Hallo" nachgestellt geradezu automatisch über die Lippen. Ebenso automatisch kommt das "Gut, danke!" dem Gegenüber von den Lippen. In diesem potentiellen Einstieg in ein Gespräch ist somit in den meisten Fällen leider gar keine Information enthalten. Und es kommt kein echter Kontakt zustande. Darüber hinaus, die psychologisch betrachtet weitreichendere Folge, entsteht über die Zeit ein Gesamteindruck, es ginge irgendwie allen immer bestens und Sorgen, Nöte und Probleme wären nicht existent. Zumindest nicht bei den anderen.

 

In Beratungen und Therapien höre ich sehr oft "Darüber habe ich noch nie gesprochen" oder "Das würde ich nie erzählen". Zugleich leiden die Ratsuchenden unter dem Gefühl, sie selbst hätten versagt oder etwas falsch gemacht, während "alle anderen" ein zufriedenes und erfolgreiches Leben führen. Aus meiner beruflichen Situation heraus ist mir stets bewusst, welche Probleme und welches Leid häufig hinter einer Fassade stehen, doch bemerke auch ich in meinem privaten Alltag die Präsenz scheinbar erfüllter und sorgloser Existenzen bei gleichzeitiger Abwesenheit persönlicher Nöte. Was de facto nicht der Realität entsprechen kann.

Die Statistik sagt zum Beispiel: jede zweite Ehe zerbricht, jeder Dritte erkrankt mindestens ein Mal im Leben an einer psychischen Störung, drei Viertel der Bevölkerung sind im Beruf unzufrieden, jede dritte Schwangerschaft übersteht das erste Trimester nicht und rund 80% aller Erwerbstätigen leiden unter schlechtem Schlaf. Diese Themen spiegeln sich in den Antworten auf die Frage "Wie geht's Dir" nur selten wieder. Zwar würden die meisten Menschen sagen, sie wissen, dass die Antwort auf die Frage nach dem Befinden meist nur eine Floskel und nicht ganz ehrlich ist, doch scheint dennoch emotional der Eindruck zu entstehen, dass man alleine dasteht mit einem Leben, in dem Probleme eine mehr oder weniger große Rolle spielen.

 

 

Stellen Sie sich vor, was anders wäre, wenn wir den Autopiloten verlassen und statt "Alles gut, danke!" sagen würden "Schön, dass Du fragst, weißt Du, ich bin momentan sehr traurig, weil unser Kinderwunsch sich nicht erfüllt" oder "Es ist schwer zur Zeit, ich habe große finanzielle Probleme" oder "Nicht so gut, die Umstrukturierung meiner Firma macht mir richtig Angst" oder "Ich komme zur Zeit kaum aus dem Bett, weil ich nachts kein Auge zu bekomme".

Stellen Sie sich einen Moment vor, es würde mehr Offenheit herrschen und Probleme und Sorgen würden genauso Gegenstand alltäglicher Gespräche werden wie die Dinge, die gut laufen. Würden wir dann alle nur noch gedrückter Stimmung sein bei so viel negativem Input? Wären alle überfordert damit, sich mit den Sorgen der anderen auseinanderzusetzen? Oder würden wir Entlastung erfahren dadurch, dass wir erleben wie alltäglich Probleme auch im Leben der anderen präsent sind und dass es nicht wenige Menschen gibt, die vielleicht sogar ähnliche Sorgen haben wie man selbst? Könnte man sich gegenseitig wertvolle Anregungen geben oder sich einfach im Gespräch entlasten dadurch, dass man weniger Energie in die Fassade stecken muss? Würden wir mehr Bekanntschaften von Qualität haben und bestehende Kontakte vertiefen? 

 

Wie so oft liegt die Lösung wohl nicht in dem einen oder anderen Extrem, doch vielleicht regt dieser Text Sie an, falls Sie es nicht bereits tun, hier und da mal ein echtes offenes Gespräch zu eröffnen mit der Frage und der Antwort zum Befinden. Vielleicht regt er zu einem Mittelweg an. Sollten Sie es versuchen, beobachten Sie die Effekte, die es auf Sie, auf Ihr Gegenüber und auf Ihre Sicht der Dinge hat. Wenn Sie mögen, eine Rückmeldung ist auch hier in der Kommentarfunktion herzlich willkommen.

 

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