Wenn Sie ein Auto wären...

Stress

… wären Sie vielleicht gesünder?

 

Wenn es um Stress, mentale, körperliche und emotionale Belastung geht, fällt immer wieder auf, wie groß die Kluft ist zwischen dem, was Menschen sich selbst (und nicht selten auch anderen) zumuten, und den Grenzen, die die Natur uns setzt. Alarmierend ist, wie Verharmlosung, Verdrängung und ebenso überhöhte wie unrealistische Ansprüche einen bedeutsamen Teil der Bevölkerung nicht nur krank machen, sondern in erschreckend vielen Fällen auch langfristig zu Behinderung und Verlust der Teilhabefähigkeit am beruflichen Leben führen. Zahlen und Fakten zur Frühberentung aufgrund stress- und erschöpfungsbedingter psychischer Erkrankungen in einem aktuellen Spiegel-Artikel. 

 

 

Die psychische Komponente von Dauerstress ist jedoch nur eine Facette dessen, was längerfristiges Überschreiten natürlicher Belastungsgrenzen anrichten können. Körper und Psyche zu trennen entspricht nicht länger wissenschaftlichen Erkenntnissen und Paradigmen, Psyche ist Körper, Körper ist Psyche, alles hängt zusammen und wohnt in der gleichen "Hülle" - die wiederum auch Teil des Ganzen ist. 

 

Über einen längeren Zeitraum wiederholt oder kontinuierlich auftretende Beschwerden wie Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Verspannungen, Magenschmerzen und Verdauungsprobleme, Schlafstörungen, Appetitveränderungen, Erschöpfung oder Atembeschwerden, die nicht Ausdruck einer eigenständigen Erkrankung wie zum Beispiel einer Schilddrüsenfehlfunktion sind, können Anzeichen dafür sein, dass wir überlastet sind. Oder, wie es landläufig heißt, "zu viel Stress haben". 

 

Der Ausdruck "ich bin im Stress" droht allerdings zur Floskel zu werden, wodurch die Risiken dauerhafter Stressbelastung unterschätzt werden. 

 

Unter situativer Belastung reagiert unser Körper zunächst mit einer gesunden und nützlichen Anpassungsreaktion. Es wird vermehrt Energie zur Verfügung gestellt, um der Belastung gerecht werden zu können, sie bewältigen zu können. In dieser Hinsicht funktioniert unser Körper noch recht archaisch mit der gleichen Anpassungsreaktion wie bei den Jägern und Sammlern. Als es darum ging, sich gegen angreifende wilde Tiere zu verteidigen - die damalige Form von Stress. 

 

Die Atmung wird schneller und flacher und die Bronchien sind stärker geweitet, um mehr Sauerstoff zuzuführen. Das Herz schlägt stärker und schneller, der Blutdruck steigt also, um große Muskelpartien besser zu durchbluten, bereit für Angriff oder Flucht zu sein, während zum Beispiel die Blutgefäße des Magen-Darm-Traktes verengt werden. Die Muskelspannung in Armen, Beinen, Nacken und Rücken ist erhöht. Es wird vermehrt Zucker ins Blut abgegeben und Fettsäuren freigegeben, um Gehirn und Muskeln möglichst in Höchstleistung zu versetzen. Die Verdauung hingegen funktioniert nur noch eingeschränkt bzw. unreguliert. Auch der Sexualtrieb ist herabgesetzt, weil er unter Stress nicht lebensnotwendig und somit nur unnötiger Energiefresser ist. Die Immunabwehr wird zunächst für einen kurzen Zeitraum gestärkt, die Anzahl der sogenannten Killerzellen steigt, um potentielle Wundinfektionen zu verhindern. 

Durch die vermehrte Ausschüttung körpereigener Endorphine wird der Körper für eine gewisse Zeit unempfindlich gegenüber Schmerz. 

 

 

Stressanzeichen

 

Hält Stress über längere Zeit an ohne abgebaut zu werden, chronifiziert sich die akute Anpassungsreaktion und schlägt von ihrem ursprünglich lebenserhaltenden Nutzen um in eine Bedrohung der körperlichen Gesundheit. 

Es kommt zu einer Reduktion der Geschlechtshormone oder einem Ungleichgewicht männlicher und weiblicher Geschlechtshormone, die bei beiden Geschlechtern natürlicherweise vorkommen. Bei Männern reduziert sich die Anzahl verfügbarer und fruchtbarer Spermien und es können Erektionsstörungen auftreten. Bei Frauen kann es zu Zyklusstörungen bis hin zu einem monatelangen Ausbleiben der Regel kommen, welches nicht nur die Fruchtbarkeit einschränkt, sondern auch das Risiko für Osteoporose und Krebs anhebt. 

Die Immunreaktion kehrt sich um und der Körper wird deutlich anfälliger für Infekte aller Art, die auch weniger schnell auskurieren als gewöhnlich.  

Die körpereigenen Endorphinspeicher leeren sich, man wird Schmerzempfindlicher. 

 

Die mit der Stressreaktion einhergehenden körperlichen Veränderungen bedingen auch, dass natürliche Ruhereaktionen wie das Absinken der Herzrate im Schlaf nicht mehr stattfinden, weshalb der Schlaf verkürzt, zerrissen und unerholsam ist. Anhaltende Müdigkeit und Erschöpfung schon bald nach dem morgendlichen Erwachen sind die Folge. Auch die dauerhaft erhöhte Muskelspannung trägt zu erhöhter Müdigkeit und Erschöpfungsgefühlen bei. Eine andere Folgeerscheinung der muskulären Daueranspannung sind Kopf- und Rückenschmerzen. 

Auch die Merkfähigkeit verschlechtert sich, da Gedächtnisinhalte vorrangig während der Tiefschlafphasen gefestigt werden. Die ausbleibende Ruhereaktion des Herz-Kreislaufsystems kann zudem zu schwerwiegenden Dysregulationen führen, die sich in Herzrasen, Herzstolpern, Blutdruckschwankungen und Schwindelgefühlen äußern können. Auf lange Sicht steigt das Risiko für einen Herzinfarkt. 

 

 

Erschöpfung und Burnout

Viele von Ihnen lesen von den Folgen dauerhafter Stressbelastung sicher nicht zum ersten Mal. Doch sind innere Antreiber und überhöhte Erwartungen an uns selbst sowie der wachsende gesellschaftliche Druck einer immer schneller und reizintensiver sich um uns drehenden Welt sowie Anforderungen aus der global und auf kurzfristige Effizienz hin orientierten Arbeitswelt oftmals ein Hindernis für nachhaltige Verhaltensänderungen. 

 

Unser Körper hält dem Raubbau tatsächlich auch sehr lange stand, was es uns schwerer macht, rechtzeitig zu reagieren. Jeder Autofahrer bekommt schneller die Quittung, wenn er die Kontrolllämpchen auf dem Display seines Wagens standhaft ignoriert. 

 

Die Kontrolllämpchen des eigenen Körpers wahrzunehmen und vor allen Dingen auch auf sie zu reagieren, ist dramatisch schwieriger. Insbesondere, da "im Stress sein" zu einer Art zeitgeistlichen Attitüde zu avancieren scheint, die ganze Gesellschaften prägt. 

 

Die meisten von Dauerstress und entsprechenden Konsequenzen Betroffenen werden erst aktiv und beginnen mit ernsthaften und konsequenten Änderungen ihres Arbeits-, Lebens- und Erholungsstils, wenn sie mit Befunden konfrontiert sind, die überwältigende Ängste schüren oder persönliche Lebensträume bedrohen - zum Beispiel Tinnitus, Herzrhythmusstörungen, Bandscheibenvorfälle, unerfüllter Kinderwunsch. Unter dem Druck wenig gesundheitsorientierter Arbeitgeber oder eigener perfektionistischer Ansprüche braucht es bei nicht wenigen Menschen sogar noch ernstere Konsequenzen, um sich selbstfürsorglich dem eigenen Körper und seinen Belastungsgrenzen zuzuwenden. 

 

Falls Sie selbst unter Anzeichen stressbedingter Erschöpfung leiden - diese können auch emotionaler Natur sein - nehmen Sie sich einen Moment Zeit. 

 

Denken Sie bitte einen Moment an Ihr eigenes Stresserleben und vervollständigen Sie die folgenden Sätze:

 

Ich gerate in Stress, wenn... 

 

Ich setze mich selbst unter Stress, indem... 

 

Wenn ich im Stress bin, dann... 

 

Die Vervollständigung kann zum Beispiel so aussehen: 

 

Ich gerate in Stress, wenn innerhalb der nächsten Tage mehrere ganz unterschiedliche Aufgaben erledigt sein müssen, besonders wenn andere Menschen außer mir ein Interesse an der Fertigstellung haben.  

 

Ich setze mich selbst unter Stress, indem ich möglichst vermeiden möchte, einmal eine Deadline verschieben oder jemanden vertrösten zu müssen. 

 

Wenn ich im Stress bin, dann komme ich schlecht zur Ruhe, bin ungeduldig und nervös. 

 

 

Objektiv gleiche Belastungen werden aufgrund unterschiedlicher persönlicher Prägungen und verinnerlichter Glaubenssätze subjektiv unterschiedlich bewertet und führen somit bei einer Person zu einer Stressreaktion, bei einer anderen (oder der gleichen Person zu einem anderen Zeitpunkt) nicht.

 

Es sind sowohl die äußeren als auch die inneren Stressoren bzw. Belastungen, die in der Summe zu einer Überlastung natürlicher Ressourcen führen können. Sollten Sie eines oder gar mehrere der oben beschriebenen Symptome bei sich selbst feststellen, nutzen Sie das Signal ihres Körpers, gehen Sie nicht darüber hinweg - nicht einmal bei Ihrem Auto würden Sie das tun! Prüfen Sie Ihre Arbeits- und Lebensumstände, lassen Sie sich falls nötig dabei unterstützen von einem Berater oder Therapeuten. Seien Sie sich nicht weniger wert als zum Beispiel ein Auto - oder Ihre Wohnung, Ihr Haus, Ihre Frisur oder ein anderer Mensch - es Ihnen ist. 

Vielleicht finden Sie auch zum Beispiel im Blogartikel 'Lieben Sie sich selbst wie Ihren Nächsten?' eine Anregung? 

 

Menschen sind anpassungsfähig, doch haben die Anforderungen der schnellen, starken, vernetzten, gewinnmaximierungsorientierten und darüber hinaus in vielen Bereichen "unmenschlichen", im Sinne von natürliche Ressourcen übersteigenden, Welt die Grenzen des menschlich Möglichen wahrscheinlich längst überschritten. Der Mensch verbrennt zum Teil auch körpereigene "nicht erneuerbare Energien".

 

 

Wenn Sie die Kommentarfunktion nutzen möchten, beachten Sie bitte besonders meine Informationen zum Datenschutz.  

 

Meldungen über neue Blog-Artikel regelmäßig erhalten via facebookGoogle+ und twitter.

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 2
  • #1

    Tom Wilhelm (Samstag, 15 April 2017 12:53)

    Ja, schon interessant, dass viele Menschen eher nach ihrem Auto schauen, als auf sich selbst. Ich kann mein Lied davon singen: 20 Jahre lang selbstständig, Burnout, Erschöpfungsdepression, psychosomatische Schmerzen. Es dauerte lange, bis ich begriff, dass mich mein selbstgewähltes „Hamsterrad“ fertigmacht, meiner Psyche und meinem Körper brutal schadet. Seit 6 Jahren nun führe ich ein völlig anderes Leben, habe meinen Job gewechselt und mache regelmäßig Autogenes Training. Veränderungen mögen zunächst unmöglich erscheinen, sie sind aber machbar – und können ein glückliches Leben zur Folge haben.

  • #2

    Dr. Julia Arnhold (Dienstag, 18 April 2017 07:58)

    Lieber Herr Wilhelm,

    haben Sie vielen Dank für Ihren offenen Kommentar, der sicher vielen Menschen Mut macht und beweist, dass eine Kehrtwende sich lohnen kann - auch wenn Sie erst einmal, wie Sie trefflich schreiben, unmöglich erscheinen.
    Ich wünsche Ihnen weiterhin alles Gute auf Ihrem Weg!

    Herzliche Grüße,

    Julia Arnhold