With or without you

Blind vor Liebe

"Die Chemie muss stimmen", darin sind sich die meisten Leute einig, wenn es darum geht, ganz spontan zu sagen, was Anziehungskraft und Beziehungspotential zwischen zwei Menschen ausmacht. Was genau wiederum diese "Chemie" ausmacht ist eine Gretchenfrage. Droht sie doch einerseits die Liebe zu entmystifizieren, hilft sie andererseits vielleicht dem einen oder anderen, eine unglückliche Beziehung zu verstehen und zu verändern. 

 

Da ist einerseits die buchstäbliche Chemie. Ob ein anderer Mensch unser Herz im wahrsten Sinne des Wortes höher schlagen lässt, hängt wie jedes menschliche Erleben und Verhalten mit der Ausschüttung von Botenstoffen zusammen. Tatsächlich spielen sich im verliebten Gehirn ganz ähnliche Prozesse ab wie bei einem Drogenrausch. Der Neurotransmitter Dopamin wird verstärkt ausgeschüttet, wenn wir eine neue Erfahrung machen, die sich gut anfühlt. Beim Kennenlernen eines neuen Partners überwiegen Aufregung und Neugier, das Gehirn erlebt ein Abenteuer, einen Rausch. In längeren Beziehung nimmt das Erleben von Neuartigkeit und Abenteuer in vielen Fällen mit der Zeit und mit dem Alltag jedoch ab. Der Dopaminspiegel normalisiert sich, der Anblick des Partners löst kein Feuerwerk mehr aus. Wenn es gut läuft, baut sich parallel jedoch der Spiegel des Hormons Oxytocin auf - das sogenannte "Bindungshormon", das nicht nur das unantastbare Band zwischen Mutter und Neugeborenem besiegelt, sondern eben auch die Bindung an einen Sexualpartner. Dopamin sorgt für den Rausch am Anfang, Oxytocin für das ruhigere und sicherere Fahrwasser im Verlauf. Wahrscheinlich ein Großteil aller längerfristigen Beziehungen ist maßgeblich von Oxytocineinfluss geprägt, einige Beziehungen erweisen sich auf Dauerdopamin als erstaunlich stabil und ein (wahrscheinlich) glücklicher kleiner Teil lebt gleichermaßen sicher geborgen und immer wieder aufregend unter dem Einfluss von sowohl Oxytocin als auch Dopamin.

 

Ob ein Mensch dem anderen überhaupt nahe genug kommt, um derlei chemische Reaktionen auszulösen, hat neurobiologisch betrachtet nach heutigem Kenntnisstand viel mit Geruch zu tun. Frauen und Männer nehmen ihren (körpereigenen) Geruch gegenseitig als anziehender wahr, wenn sie sich in demjenigen Gentyp unterscheiden, der für die Ausstattung der Immunabwehr zuständig ist. Evolutionsbiologisch macht das großen Sinn, da stark unterschiedliche Gene der Eltern die gemeinsamen Kinder anpassungsfähiger und abwehrstärker machen. 

 

Schicksalhafte Liebe

Zur buchstäblichen Chemie hinzu kommt nun aber noch die psychologische Chemie. Auch hier ist Unterschiedlichkeit ein guter Klebstoff für Beziehungen - allerdings kleben hier nicht immer die beiden zusammen, die einander das Leben am leichtesten machen. Unsere Partnerwahl wird unbewusst stark durch die eigenen biographischen Erfahrungen beeinflusst, insbesondere durch die Beziehung zu den Eltern in der Kindheit und das von den Eltern vorgelebte Beziehungsmodell.

 

Nehmen wir zum Beispiel eine Frau, von der als Kind sehr früh zu viel Selbständigkeit verlangt wurde, deren Eltern sie aufgrund eigener Probleme wenig unterstützen und versorgen konnten, wenig verfügbar waren und vielleicht sogar selbst die Unterstützung des Kindes benötigten. Diese Frau hat im Erwachsenenleben wahrscheinlich einerseits ein sehr starkes Bedürfnis nach Nähe und Verbundenheit, ist andererseits emotional geprägt auf Menschen, die sich eher wenig einlassen können und hat eine hohe Fähigkeit sich in diese Menschen einzufühlen und nach außen hin immer gut alleine klarzukommen. Denken wir uns dazu einen Mann, der im Elternhaus sehr eingeengt wurde, wenig Freiheiten hatte und von einer überfürsorglichen Mutter vereinnahmt wurde. Hier finden wir im Erwachsenenalter sehr wahrscheinlich einerseits ein hohes Bedürfnis nach Autonomie, andererseits aber auch die emotionale Prägung auf Menschen, die sehr fürsorglich und emotional sind. Treffen sich unsere fiktive Frau und unser fiktiver Mann als Erwachsene, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie sehr attraktiv füreinander sind. Die Tendenz des Mannes zur Abwesenheit spiegelt die (schädliche) Nichtverfügbarkeit der Eltern der Frau wider, während das Nähebedürfnis und die Emotionalität der Frau die (übermäßige) Fürsorge der Eltern des Mannes spiegeln.

 

Der Mensch neigt zur Wiederholung früher Beziehungsmuster in späteren Partnerschaften. Wenn nun noch eine günstige genetische Unterschiedlichkeit hinzukommt und die beiden sich "riechen" können, ist der Weg in eine intensive, vielleicht dramatische Beziehung geebnet. Warum dramatisch? Was im Kern gegenseitig attraktiv macht - weil attraktiv ist, was man kennt - ist zugleich der Schlüssel zu den tiefgehendsten wunden Punkten der beiden. Aufgrund der unzureichend befriedigten kindlichen Bedürfnisse ist die Frau ewig hungrig nach Nähe, während der Mann ewig hungrig nach Freiheit ist. Leider können die beiden nun nicht einfach getrennter Wege gehen, da sie - abgesehen von der Wirkung, die Dopamin und Oxytocin auf sie haben - eben aufeinander geprägt sind. Es kann sich nun ein Teufelskreis entwickeln aus dem gegenseitigen Einfordern von Bedürfnisbefriedigung, das beim jeweiligen Gegenüber das eigene Bedürfnis umso stärker werden lässt. Die Frau wünscht mehr gemeinsame Zeit, was den Partner dazu treibt, mehr Zeit alleine zu verbringen. Das wiederum treibt aus Angst vor Verlassenheit das Nähebedürfnis der Frau umso stärker an. Sie fordert mehr, er entzieht sich wegen seiner Angst vor Vereinnahmung noch deutlicher. Und so weiter, und so weiter.

 

Das klingt fatal und wieder drängt sich die Frage auf, warum unser Beispielpaar nicht einfach getrennter Wege geht. Die Antwort liegt über das bisher Geschilderte hinausreichend in einem Paradox der menschlichen Natur: einerseits sind wir gewissermaßen Sklaven der frühen Lerngeschichte und der damit angelegten neuronalen Muster, der Prägung auf bestimmte Charaktere denen wir uns verbunden fühlen, andererseits strebt jeder Mensch nach Weiterentwicklung und damit nach Auflösung des kindlichen Schicksals im Erwachsenenalter. Gelingt es unserem Paar nicht, sich die jeweiligen kindlichen Bedürfnisse und Erfahrungen bewusst zu machen, werden sie wahrscheinlich so lange am anderen hängen und am anderen leiden, bis es womöglich durch einen äußeren Einfluss oder schlichte Erschöpfung doch zu einer schmerzhaften Trennung kommt. In diesem Fall wäre die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der Teufelskreis sich in der nächsten Beziehung der beiden wiederholt.

 

Schafft ein solches Paar es jedoch, sich der eigenen Muster und ihrer Ursprünge bewusst zu werden, kann das Bedürfnis nach Weiterentwicklung und Auflösung des Schicksals sich erfüllen. Hierzu bedarf es auf beiden Seiten sehr viel Mut, um sich darauf einlassen zu können, sich in der Beziehung anders zu verhalten als bisher. Sehr viel Mut, weil nicht nur anders, sondern vollkommen konträr zum bisherigen automatisch sich einstellenden Verhalten. Unsere Beispielfrau müsste mehr Abwesenheit und Eigenständigkeit des Partners und damit ihre Verlustangst zulassen, unser Beispielmann mehr Nähe und Gemeinsamkeit und damit seine Angst vor völliger Vereinnahmung. Dazu das Bewusstsein der Frau, dass ihre Angst vor Verlassenheit übermäßig ist und in der kindlichen Beziehung zu den Eltern begründet ist, nicht in der erwachsenen zu ihrem Mann und dessen Freiheitsdrang. Und das Bewusstsein des Mannes, dass seine Angst vor Vereinnahmung übermäßig und in der Einengung durch seine Eltern begründet ist, nicht in der Zuneigung seiner Frau. 

Da es sich bei einem solchen Prozess einerseits um ein schweres Stück Arbeit handelt, er andererseits aber einen ungemeinen Gewinn an Lebens- und Beziehungsqualität ermöglicht, kann es sich für in derlei Teufelskreisen verstrickte Paare lohnen, die Unterstützung eines Paartherapeuten einzuholen. 

 

 

Wenn Sie die Kommentarfunktion nutzen möchten, beachten Sie bitte besonders meine Informationen zum Datenschutz.  

 

Meldungen über neue Blog-Artikel regelmäßig erhalten via facebookGoogle+ und twitter.

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    Katja (Freitag, 28 September 2012 15:46)

    Der Schritt zum Paartherapeuten wäre ein sehr wünschenswerter. Leider ist in vielen Fällen zu beobachten, daß zwar eine Partei Interesse hat, sich ihren Themen zu stellen und auch an der Beziehung zu arbeiten, die andere aber nicht veränderungswillig ist. Also Glückwunsch an alle Paare, die den notwendigen Schritt zum Therapeuten schaffen!