Needy, not greedy

Hinter Aggression steckt ein Bedürfnis

Alle Menschen sind gleich. Gleich wertvoll, gleich einzigartig, gleich unperfekt. Und gleich bedürftig. 

Die Forschung zeigt, dass es bestimmte Grundbedürfnisse gibt, die jeder Mensch auf der ganzen Welt hat. Gemeint sind nicht Essen, Trinken, Schlaf und Sexualität, sondern die seelischen Grundbedürfnisse. Besonders wichtig sind sie in der Kindheit, wo gewissermaßen die Weichen gestellt werden für die Bedürftigkeit eines Menschen im Erwachsenenalter. 

Jedes Kind braucht die sichere Bindung zu einem anderen Menschen. Das bedeutet, dass eine Bezugsperson verlässlich und konstant verfügbar sein und dem Kind liebevoll, zugewandt und mit fürsorglicher Wärme begegnen sollte. 

Neben der Verbundenheit hat aber auch jedes Kind das Bedürfnis nach Autonomie, also Unabhängigkeit und danach, sich als eigenständige, kompetente Person zu erleben, die aus ihrer eigenen Fähigkeit heraus Dinge bewegen und beeinflussen kann. 

Auch gehört das Erleben von Grenzen zu den menschlichen Grundbedürfnissen. Nicht immer alles bekommen, erreichen und bewegen zu können, ist wichtig für das harmonische soziale Zusammenleben mit anderen Menschen und für den sozialen Austausch. Nicht zuletzt auch zum Schutz der eigenen Person, da es nicht gesund wäre, sich grenzenlos jeder Herausforderung zu stellen. 

Auch der freie und von einem wohlwollenden Gegenüber wertgeschätzte Ausdruck eigener Gefühle sowie Spontaneität und Ausgelassenheit sind menschliche Grundbedürfnisse. 

 

Diese fünf Bereiche - Bindung, Autonomie, Grenzen, Ausdruck von Gefühlen und Bedürfnissen, Spontaneität und Ausgelassenheit - scheinen nach heutigem Kenntnisstand universell von Geburt an eine Rolle zu spielen in der Emotionalität und Beziehungsgestaltung von Menschen. Wie ausgeprägt die einzelnen Grundbedürfnisse beim Erwachsenen sind, hängt stark davon ab, wie das soziale Umfeld diesen Grundbedürfnissen in Kindheit und Jugend begegnet ist. Menschen, denen es zum Beispiel an einer stabilen, liebevollen und fürsorglichen Bezugsperson gefehlt hat oder deren Bindungsbedürfnis missbräuchlich ausgenutzt wurde, haben im Erwachsenenalter häufig ein besonders ausgeprägtes Bedürfnis nach engen Beziehungen, die aber zugleich häufig angstbesetzt sind, da eine starke Furcht vor Verlassenheit oder Verletzung bestehen kann.

Menschen, die ohne Grenzsetzung aufgewachsen sind, haben häufig im Erwachsenenalter Schwierigkeiten sich in sozialen Gemeinschaften wohlzufühlen oder suchen ganz besonders nach Beziehungspartnern, die Regeln vorgeben, in der Beziehung den Ton angeben. 

 

Hinter die Maske blicken

Diese Beispiele zeigen bereits wie weitreichend der Einfluss der Grundbedürfnisse ist. Sie prägen unsere Beziehungsgestaltung ganz maßgeblich. Das zeigt sich auch in wiederkehrenden zwischenmenschlichen Konflikten - den größeren und den kleineren. Die Frage nach der individuellen Bedürftigkeit erklärt viele auf den ersten Blick irrational oder überempfindlich wirkende Verhaltensweisen und Reaktionen unseres Gegenübers. Die übermäßige Eifersucht oder Gier nach Zuwendung des Partners, die "Szene", die eine gute Freundin macht, wenn man im Gespräch mit ihr einmal mit der Aufmerksamkeit abschweift, die überschäumende Wut des Kollegen, wenn das Computersystem abstürzt oder die abweisende Reaktion der Partnerin auf fürsorgliche Gesten. Wie wir "ticken", was uns "antitscht", unsere "Knöpfe drückt", wird in hohem Maße davon beeinflusst, welche Grundbedürfnisse in der Entwicklung nicht oder nicht angemessen erfüllt worden sind und welche unbewussten Strategien wir entwickelt haben, um uns vor den damit einhergehenden schmerzvollen Gefühlen zu schützen - zum Beispiel keine menschliche Nähe und Wärme mehr zuzulassen, um den Schmerz einer möglichen zukünftigen Trennung nicht erleben zu müssen. 

Wenn wir aber nicht hinter diese Masken, die Schutzstrategien blicken, bleiben oft nur Ärger, Frust oder Ratlosigkeit ob des Verhaltens unserer Beziehungspartner (oder unseres eigenen Verhaltens!). Wer dahinter blickt, sieht allerdings das Bedürfnis hinter der Wut, der Eifersucht, der Distanziertheit oder der dramatischen Szene. Sehen wir einen bedürftigen Menschen statt eines zeternden, klammernden, cholerischen, hysterischen, arroganten oder egozentrischen Menschen, bieten sich sehr viel bessere Chancen auf konstruktive und hilfreiche Begegnungen. 

Versuchen Sie es, suchen Sie das Bedürfnis hinter dem zunächst unbequemen oder unangenehmen Verhalten Ihres Gegenübers - und hinter dem eigenen - und reagieren Sie auf das Bedürfnis statt auf das Verhalten. 

Ein einfaches Unterfangen ist das nicht, da häufig äußerst komplexe biographische Entwicklungen und Zusammenhänge hinter alltäglichen Verhaltensweisen stecken, die selbst im therapeutischen Kontext manchmal nur allmählich gemeinsam entdeckt werden. Wenn man aber gedanklich den kleinen Paradigmenwechsel vollziehen kann - das hinter greedy (oder aggressiv, cholerisch, arrogant, dramatisch, klammernd, distanziert etc.) höchstwahrscheinlich needy steckt, ist die Tür zur konstruktiven menschlichen Begegnung zumindest geöffnet. Es fällt leichter, dem Gegenüber (und sich selbst) mit Wertschätzung, Anerkennung, Wärme und Verständnis ganz individuell zu begegnen. 

 

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